Montag, 5. Juni 2017

Diagnose: MENSCH!


Gestern Nacht habe ich einen neuen Blogartikel geschrieben. Einen Artikel, der derzeit im Blog "auf Eis" liegt. Entstanden aufgrund eines persönlichen Ereignisses zu einem Thema, das immer noch mit vielen Tabus behaftet ist und zu dem seltsame, teilweise sehr abstruse Ansichten in Umlauf sind.

Ein Thema, das zu mir gehört, wie das Atmen. Wie kann ich es hier ausklammern? Wie kann ich etwas nicht ansprechen, was mein Leben so stark geprägt hat und meine Handlungen immer noch beeinflusst? Was hindert mich an der Veröffentlichung?

Das Thema Psychiatrie


ist eines der letzten großen, von Angst, Vorurteilen und Tabus besetzten Themen unserer Zeit. Viele wird diese Aussage zum Widerspruch reizen, denn Burn-out und Depression werden heutzutage immer öfter in diversen Medien behandelt. Das stimmt. Jedoch nur bedingt, denn in diesen Ausnahmefällen gilt unterschwellig zu häufig der Tenor: Die armen, armen Menschen, die darunter leiden!

Wie mich dieses Mitleid heischende falsche Getue ankotzt!

Oft wird im Rahmen vorgeblicher Aufklärung ein teilweise gefährliches Nicht- bzw. Halbwissen unter die Menschen gebracht. Dieses Halbwissen führt in vielen Fällen dazu, dass sich Hinz und Kunz dazu berufen fühlen jedem, der in einer psychischen Krise steckt ungefragt und ungebeten unnütze "gut gemeinte" Ratschläge zu erteilen, die, im günstigsten Fall, nichts anderes darstellen als bloße Plattheiten und blöde Sprüche.

Hat man die Diagnose Borderline oder gar Psychose / Schizophrenie, sieht das noch ganz anders aus. Die Berichterstattung in den Medien was Psychosen und Schizophrenie angeht, ist zu einem großen Teil stark stigmatisierend. In jedem zweiten Krimi oder Thriller ist der Mörder ein Psychopath oder Psychotiker. Aktuelle Mordfälle sind nur dann von öffentlichem Interesse, wenn mindestens ein Psychotiker darin vorkommt, denn die vielen "normalen" Mörder, die wesentlich häufiger in Erscheinung treten, liefern keine Einschalt- bzw. Verkaufsquoten.

Einer aktuellen Studie zufolge wird über Gewalttaten im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen sieben Mal (natürlich finde ich die Studie gerade nicht!) häufiger berichtet, als über die, die von sogenannten "Normalen" begangen werden. Die häufigsten Morde begehen z. B. Männer an ihren Ehefrauen. Diese Taten bieten jedoch kaum einen Anreiz zur Veröffentlichung. Sie enthalten kaum Möglichkeiten zu reißerischen Schlagzeilen, bieten keine guten Vermarktungsmöglichkeiten und gehören daher nicht in den Bereich "Auflagen steigernd".

So tragen Krimis und die aktuelle Medienberichterstattung einen großen Teil zur weiteren Stigmatisierung psychisch kranker Menschen bei. Damit werden bereits vorhandene Ängste verstärkt, Vorurteile gebildet, Ausgrenzung gefördert und eine wirksame Inklusion weiterhin verhindert.

Psychiatrie und ich


Warum erwähne ich das überhaupt? Wäre es nicht erheblich einfacher, wenn ich alles so lassen würde, wie es ist. Den Blog mit schönen Bildern, kurzweiligen Geschichten und ein paar nachdenklichen Notizen füllen? Friede, Freude, Eierkuchen?

Ja, es wäre einfacher, aber ich habe in meinem Leben nie den einfachsten Weg gewählt und ich werde garantiert nicht jetzt damit anfangen! Psychiatrie und psychische Krisen bilden einen nicht geringen Teil meines Lebens. Einen Teil, mit dem ich immer offen umgegangen bin, den ich nie versteckt habe.

Meiner festen Überzeugung nach lässt sich nur etwas ändern, wenn man selbst etwas dazu beiträgt. Schöne Gedanken, einfache Klicks und reines Wunschdenken hat noch nie eine Veränderung bewirkt. Nirgends und zu keinen Zeiten.

Seit einigen Jahren engagiere ich mich in diesem ganz speziellen Bereich, besuche Tagungen, Kongresse und nehme an trialogischen Psychoseseminaren teil, die ich teilweise als Mitmoderatorin mitgestalte.

Ich mische mich ein, habe keine Angst vor "großen Tieren", sage unverblümt und keinesfalls leise meine Meinung und habe die Ausbildung zur EX-IN abgeschlossen.

In meinem Blog findet man bisher davon kaum eine Spur. Ein existenzieller Teil meines Selbst fehlt.

Warum?

Diese Frage stelle ich mir und ich habe die Antwort darauf gefunden. Angst vor Outing? Nein, die hatte ich nie. Angst vor seltsamen Reaktionen? Damit kann ich umgehen.

Was mich abhält, den oben erwähnten Artikel zu veröffentlichen ist seltsamerweise etwas, worauf selbst ich nicht so schnell gekommen bin. Etwas, wozu ich erst diesen Text verfassen musste.

Es ist ein Gefühl von Fürsorge. Nicht für mich, sondern für diejenigen, die das vielleicht lesen könnten. Quasi eine vorweggenommene Selbstzensur, denn eventuell könnte ja jemand emotional von dem, was ich schreibe, überwältigt werden.

In mir drin ist immer noch dieser abwegige Gedanke, andere vor meinen Emotionen, meinen Erlebnissen schützen zu müssen.

Und ich erinnere mich gerade daran, wie ich einer Bekannten eines meiner nicht veröffentlichten Gedichte vorgetragen hatte und dann total fassungslos war, dass ihr am Ende des Gedichtes Tränen die Wangen herunterliefen.

Diese Tränen verursachten mir ein dermaßen großes Schuldgefühl, dass ich mit meinem jüngeren Sohn darüber redete. Seine Antwort werde ich nie vergessen. "Sehe es als ein Geschenk, dass Du einen anderen Menschen so tief berühren konntest, denn das ist selten und schön."

Im Grunde sollte ich diesen Satz als Schlusswort stehen lassen, aber ich nehme ihn jetzt zum Anlass, den schon lange angestrebten Wandel im Blog zu vollziehen. Mehr von mir. Mehr von der dunklen, der schweren und schmerzvollen Seite. Der Seite, ohne die man das Helle nicht so wertschätzen würde.

Was für eine Erkrankung ich habe? Wie meine Diagnose nach ICD-10 lautet?

Diagnose: MENSCH!


 Ariana



© Text by Ariana Lazar 05/06/2017

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