Seltsam, wozu sich ein Arztbesuch und ein paar anschließend gemachte Bilder manchmal entwickeln. Ursprünglich sollten in diesem Artikel die Fotos die Hauptrolle spielen, aufgelockert durch nicht allzu viel erklärenden Text. Das Ganze spielte sich bereits vor über einer Woche ab.
Warum schreibe ich den Artikel erst heute?
Weil sich unvermutet Zusammenhänge zeigten, die ich bei dem Spaziergang überhaupt nicht im Blickfeld hatte. Und auf einmal sitze ich zu Hause vor dem PC und habe mehr Themen zur Auswahl, als mir lieb ist. Zu vieles, was mir durch den Kopf geht und von dem ich nicht weiß, was ich davon wählen soll, da alles wichtig zu sein scheint.
Themen wie Abschied, Verlust, Schmerz und Tod begleiten mich die letzten Monate intensiver. Wie geht man mit Erinnerungen um? Was macht den Unterschied zwischen Mitgefühl und Mitleid? Wie steht es mit meiner Selbstfürsorge? Alte und neue Verhaltensmuster. Und was von diesem Konglomerat ist für mich momentan am wichtigsten?
Die Frage, ob ich am Ende nicht doch lieber einen 08/15 Artikel schreiben soll, in dem nichts davon vorkommt, stellt sich mir ebenfalls. Eine schlichte Aneinanderreihung von Worten und Bildern. Dann stünde wenigstens wieder etwas im Blog.
Wäre ich damit zufriedener? Wohl kaum.
Am Ende überlasse ich der Zeit die Entscheidung. Warte ab, welche Gedanken sich nach einer Woche hartnäckig halten, sich aufdrängen, Spalier stehen. Gewonnen hat das Thema Selbstfürsorge.
Was letztendlich im Blog erscheint, wird naturgemäß immer nur ein kleiner Bruchteil meiner Gedankengänge sein.
Baustelle gesundheitliche Selbstfürsorge
Im Großen und Ganzen bin ich mit meiner eigenen Selbstfürsorge ganz zufrieden. Zumindest mit dem Teil, bei dem es um meine alltäglichen psychischen Bedürfnisse geht.
Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn ich mir meine Gesundheitsfürsorge anschaue. Mit der stehe ich, seit ich denken kann, auf Kriegsfuß. Arztbesuche sind mir ein Greuel. Nicht, weil ich Ärzte nicht mag, sondern weil ich es schlicht für überflüssig halte, sie aufzusuchen, sofern ich mich noch bewegen kann und mein Kopf sich weiterhin auf meinem Hals und nicht unter meinem Arm befindet.
Das hat sich zwar in den letzten Jahren sehr gebessert, aber ich bin bis jetzt weit von einem für mich zufriedenstellenden Zustand entfernt. Nach wie vor schiebe ich Arztbesuche möglichst weit vor mir her. Mein innerer Widerstand gesundheitlich gut für mich zu sorgen, ist enorm und jetzt erst komme ich so langsam dazu, dem auf den Grund zu gehen. Es waren lange Jahre mit zu vielen umfangreichen Baustellen und es gab so vieles, was ich als dringlicher empfand.
Wo liegt die Ursache?
Erinnerungsfetzen
- Ich bin neun oder zehn, sitze an dem großen braunen Nussbaumtisch in dem Raum, der gleichzeitig Wohnzimmer, Küche und Elternschlafzimmer darstellt, presse die linke Hand in meine Magengrube und krümme mich vor Schmerzen. Sobald ich etwas esse, wird der Schmerz schlimmer.
"Stell Dich nicht so an!" "Du hast gar nichts, Du willst nur nicht raus!" "Das bildest Du Dir bloß ein!" Das sind nur einige der Sätze, die ich zu hören bekomme. Lediglich meine Mutter glaubt mir, aber sie steht mir nur heimlich bei. Dann, wenn es weder mein Stiefvater noch meine Oma sehen können. Also versuche ich den Schmerz zu ignorieren und nur zu weinen, wenn es niemand sieht.
- Ich bin zwölf. Das Internat ist klein, ein etwas größeres Einfamilienhaus und steht in einem hessischen Dorf. Seit Tagen gehe ich fast die Wände hoch vor Bauchschmerzen. "Stell Dich nicht so an, das ist bloß Deine Periode!" Tagelang. Als sie mich endlich ins nächste Dorf zum Arzt bringen, ist mein Blinddarm kurz vor dem Durchbruch. Innerhalb einer Stunde schafft man mich mit dem Taxi in das weiter entfernte Krankenhaus, eine Stunde später liege ich auf dem OP-Tisch.
- Längst erwachsen, kurz nach der Geburt meiner Tochter. Ich liege im Bett und beiße in mein Kopfkissen, um nicht zu schreien und meinen Mann zu wecken. Darmkrämpfe, das sind höllische Schmerzen.
Meine Biografie liefert die Erklärung für mein Verhalten. Der Blick zurück hilft mir nicht nur dabei mich und meine Handlungsweise zu verstehen, er hilft mir ebenso, mein Verhalten zu ändern.
Womit wir zu dem schweren Teil übergehen:
Dem Erlernen neuer Verhaltensweisen.
Eingefahrene Gewohnheiten sind vergleichbar mit einer dreispurigen Autobahn. Das Gehirn hatte viel Zeit entsprechende Verbindungen zwischen den einzelnen Synapsen herzustellen und die verstrichene Zeit hat diese Synapsenverbindungen ausgebaut und gefestigt. Da es sich um eine ständig genutzte Verbindung handelt, neigen wir Menschen dazu, diese Straße zu bevorzugen. Sie ist vielfach erprobt, hat uns in der Vergangenheit vermeintlich hervorragende Dienste geleistet, verfügt über keinerlei Schlaglöcher oder Stolperfallen und führt uns sicher ans Ziel.
Ans Ziel? Oder doch drum herum und weit vorbei? Hat uns diese Autobahn wirklich genutzt oder eher geschadet? Ist das, was in unserer Kindheit überlebenswichtig war, heute noch sinnvoll? Schaut man, bzw. ich, genau hin, muss ich alle diese Fragen, bis auf die zweite, verneinen.
Es gilt also, eine neue Straße zu bauen. Neue Strategien müssen her, damit ich mich so um mich kümmern kann, wie ich es verdiene.
Neue Verbindungen zwischen den Synapsen zu bauen, ist möglich. Einfach ist es nicht. Es fühlt sich an, als versuche man sich mit einer Machete einen Weg durch einen undurchdringlichen Dschungel zu bahnen und immer, wenn man glaubt, man hat ein Stück des Weges erschaffen, zeigt ein zweiter Blick, dass der Dschungel den Trampelpfad schon wieder zurückerobert hat. Schlimmer noch, die dreispurige Autobahn liegt jederzeit im Blick und scheint lockend und verführerisch zu rufen.
Aber hey, der Dschungelpfad ist ein winziges bisschen weniger bewachsen, und wenn der neue Weg nur oft genug benutzt wird, entfaltet er sich zum Trampelpfad und irgendwann zur holprigen Landstraße, die sich weiterentwickelt.
Viele dieser Dschungelpfade habe ich schon mit der Machete bearbeitet. Inzwischen sind die meisten davon gut fahrbare Straßen geworden und an die alten Autobahnen erinnern nur noch ein paar Asphaltstücke irgendwo im Dschungel der Vergangenheit.
Zurück zu den Banalitäten des Alltags
Nun habe ich einen großen Bogen geschlagen und ein paar Umwege hinzugefügt, um letztendlich über die einfache Tatsache zu berichten, dass ich an einem Tag gleich in zwei Arztpraxen vorstellig wurde. Zugegeben, in der ersten musste ich mir nur ein Rezept abholen, aber selbst dafür muss frau sich ja aufraffen. Immerhin suchte ich die zweite Praxis ganz freiwillig auf, ohne das eine dringende Notwendigkeit vorlag. Was mir prompt weitere Termine bescherte. Schöne Bescherung!
Das klingt äußerst banal und ist es für viele wohl. Für mich ist das ein Fortschritt. Ein nicht zu unterschätzender obendrein, was mich mit einem gewissen Stolz erfüllt. Stolz, dass ich nicht der Verlockung der Autobahn erlegen bin, sondern die mentale Machete geschwungen habe und mein Trampelpfad langsam gangbarer wird. Trotz seiner noch vorhandenen Stolpersteine, seiner tückischen Schlammlöcher und wild wuchernden Pflanzen.
Ein dreifaches Hurra auf mich!
Dieser denkwürdige Tag hielt außer den Ärzten ein heftiges Unwetter parat, so dass ich auf dem Weg vom Arzt zur Apotheke Mühe hatte, mich mit meinem Schirm gegen die herabströmenden Wassermassen zu schützen. Zu meinem Glück war das Schlimmste bereits vorbei und als ich die Apotheke wieder verließ, hatte der Himmel seine Schleusen wieder geschlossen.
Und so nutzte ich die Gelegenheit, zu der weiter entfernten Bushaltestelle zu laufen. Da blitzte tatsächlich die Sonne zwischen den Wolken hervor und so ging ich einfach weiter, wechselte die Straßenseite, und ehe ich mich versah, stand ich auf dem Friedhof. Die Kamera hatte ich dabei und so schien es mir eine gute Idee zu sein, die Auswirkungen des Regens auf Blüten und/oder Blättern zu dokumentieren. Außerdem würde ein Spaziergang die Anspannung lösen, unter der ich schon den ganzen Tag stand.
Auf dem Friedhof
Nur ein paar Minuten. Nur kurz Durchatmen, wieder zu mir kommen. Mich erden. Ein paar wenige Schritte nur. Vielleicht ein gelungenes Foto der Regentropfen.
Von den Bäumen fallen schwere Wassertropfen und so ziemlich das Erste, was ich sehe, ist ein Eichhörnchen. Diese flinken Gesellen sind nur schwer mit der Kamera einzufangen, ich versuche es dennoch. Das Ergebnis ist eher so lala, aber ich zeige es trotzdem.
|
Ein Eichhörnchen klettert auf den Baum |
|
Eichhörnchen im Gras |
Nur noch ein oder zwei Fotos. Vielleicht von den Rosen, die dort hinten wachsen. Mit den nackten Füßen in den flachen Sandalen durch das regennasse Gras. Oh, was ist das da hinten? Mit der Kamera in der Hand vergesse ich meine Umwelt ober genauer gesagt, ich ignoriere Wege und Pfützen, weil mich von Weitem ein Motiv reizt, das sich bei näherer Betrachtung als ordinäre und fehl am Platze fühlende Plastikblume erweist. Plastikblumen in der Natur empfinde ich als Frevel und absolut unangebracht. (Nein, davon gibt es
kein Foto!)
|
Regentropfen auf einer roten Rose |
Zuerst fällt mir eine Grabstelle der Familie Mendelssohn auf, dann finde ich durch Zufall die alte Kapelle mit der
Dauerausstellung über die Gräber der Familie und verbringe einige Zeit dort mit dem Lesen der Familiengeschichte. Für einen einzigen Besuch ist das zu viel Input und nach über einer Stunde beschließe ich, dass ich mindestens noch einmal wiederkommen muss.
Ziellos schlendere ich weiter über die ineinander übergehenden Friedhöfe. Fotografiere dort ein paar wunderschöne, mit Wassertropfen benetzte Rosen, finde das Grab des königlichen Hofschauspielers
Paul Dehnicke , auf dessen Grabstein eine Eule wacht, und entdecke den herrlichen Rittersporn.
|
Grabstein des Königlichen Hofschauspielers Paul Dehnicke |
|
Blau-violette Blüten des Rittersporns |
Blauer Rittersporn erinnert mich immer an ein Buch aus meiner Jugend. Darin ging es um ein Flüchtlingsmädchen, das nach dem Zweiten Weltkrieg bei einer Verwandten Zuflucht fand, die nicht gerade freundlich war. An viel mehr der Handlung entsinne ich mich nicht, nur daran, dass der Rittersporn eine wichtige Rolle in dem Roman spielte. Er weckte immer das Heimweh des Mädchens, wenn sie seiner ansichtig wurde. Lange wusste ich nicht einmal, wie Rittersporn überhaupt aussieht. Aber als ich ihn das erste Mal bewusst sah, wusste ich gleich, was es ist. Die Sehnsucht des Mädchens nach seiner verlorenen Heimat werde ich immer mit den blauen Blüten des Rittersporns in Verbindung bringen.
|
Regentropfen unter einem Blatt |
Schon von Weitem sehe ich den riesigen weißen Engel und ändere meine Richtung. Den will ich näher betrachten. Der Engel gehört zur Grabstelle des Industriellen
Carl Siemens. Die beiden Gräber von Mutter und Tochter berühren mich. Sie erzählen eine eigene traurige Geschichte.
Weiter führt mein Weg. Sonne, Wolken und Spiegelungen in einer großen Pfütze sind meine Begleiter.
|
Himmel und Wolken in einer Pfütze |
Ein frischer Kranz aus weißen Lilien und roten Rosen erregt meine Aufmerksamkeit. Die Abendsonne verwandelt Regentropfen in glitzernde Kristalle. Bezaubernde Schönheit, die mich den Atem anhalten lässt. So fragil, so zerbrechlich.
Es wird Zeit nach Hause zu gehn. Mein Magen knurrt und holt mich unsanft in den Alltag zurück. Das Grabmal des königlichen Leibarztes
Carl Wilhelm Moehsen mit der halb liegenden Frauengestalt bildet den Abschluss meines Friedhofsausflugs.
Selbstfürsorge. Das ist mehr als ein paar Arztbesuche, mehr als ein Spaziergang und mehr als ein paar Bilder. Es ist alles zusammen und noch wesentlich mehr.
Ariana
>>>>>>>>>>>>>>>>>>>><<<<<<<<<<<<<<<<<<<
Bitte beachten! Das Urheberrecht an diesem Text liegt ausschließlich bei mir! Jede Veröffentlichung,
auch auszugsweise, auf anderen Seiten (Blogs, Foren usw.) ist untersagt
und bedarf meiner ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung!
© Foto & Text by Ariana Lazar 13/08/2017
Alle Rechte vorbehalten >< All rights reserved